Proviant- und Zeugliste für 2012
Auflistung der mitgeführten Lebensmittel und Ausrüstungsgegenstände unter besonderer Berücksichtigung der Lactose-Intoleranz von Niklas.
Proviantliste_2012_WEB.xls
Microsoft Excel Tabelle 66.5 KB

 

 

 

…nur noch bis dahinten!   -  Trekking am Polarkreis

 

LESEPROBE

 

 

Warum eigentlich schon wieder nach Lappland?

 

   Diese Frage kann nur jemand stellen, der (noch) nicht vom Zauber des Hohen Nordens berührt wurde. Das gibt es natürlich, ist für mich nur schwer vorstellbar.

   Wer eine Schwäche für schier endlose Weiten ohne Straßen, Wege und andere zivilisatorische Errungenschaften hat, ist hier bestens aufgehoben. Das vielbesungene Credo „zurück zu den Wurzeln“ kann man hier hautnah am eigenen Leib erfahren. Eine Wanderung, d.h. das Erleben einer Landschaft kraft eigener körperlicher Anstrengung, ist eine ganz andere Erfahrung als wenn man (Reise)Ziele unter bequemer Nutzung von Hilfsmitteln im weiteren Sinne (z.B. Sessellift auf den Alpengipfel) erreicht.

   Schon allein der Umstand, dass man völlig auf sich allein gestellt ist, unterscheidet den „Wildnis“-Wanderer vom gemeinen Touristen. Man lernt, seine Bedürfnisse herunterzuschrauben und auf das Wesentliche zu konzentrieren. Man freut sich schon, wenn der Schlafsack trocken und der Topf warm und gefüllt ist. Die völlige Abstinenz von all den Dingen, die tagtäglich auf uns einwirken und uns auf die verschiedensten Arten knechten und nerven (Telefon, Fernsehen, Straßenverkehr,…) macht den Kopf herrlich frei und verleiht den Empfindungen auf dieser Reise eine Intensität, die eine all-inclusive-Pauschalpackung niemals hervorbringen wird.

 

   In diesem Zusammenhang werde ich nicht müde, den Kameramann Dietrich B. Sasse zu zitieren, der in den 1950ern sagte: „Wer einmal in Lappland gewandert, ist seinem Zauber verfallen. Er kann den Bann nur brechen durch seine Wiederkehr“. Und Robert Crottet schrieb: „Ich habe beinahe alle Länder der Erde bereist, aber nur hier fand ich so etwas wie ein kleines Paradies.“ [Crottet1, S. 13].

   Und genau deshalb muss es schon wieder Lappland sein!

 

   Doch dieses Mal gibt es noch einen anderen, guten Grund für dieses Reiseziel. Mein Herzenswunsch hat sich erfüllt. Niklas, mein 17-jähriger Filius, wird mit von der Partie sein. Ich freue mich unbändig darauf, meine Leidenschaft für Art und Ort des Reisens wahrhaftig mit ihm zu teilen und das Land nördlich des Polarkreises mit den Besonderheiten der Arktis mit ihm gemeinsam zu erleben. Sei es das Phänomen der Mitternachtssonne oder endlose Geröllfelder und Birkenurwälder oder mückenverseuchte Sümpfe oder ewiger Schnee auf den Berggipfeln – ich hoffe, die einzigartige Natur, Hamsuns „Allnatur“, wird eine positive und nachhaltige Wirkung bei ihm hinterlassen und den Blick auf die wirklich bedeutenden Dinge lenken. Selbst wenn man – oder gerade dann – bis an die eigenen Grenzen geht und sich selbst überwindet und weiter geht - …nur noch bis dahinten!

 

 

Einschub im Kasten auf derselben Seite:

„Lappland schenkt alles und fordert nichts.“ Aber [das] stimmt nicht. Es ist nicht wahr, dass Lappland nichts fordert. Im Gegenteil, es fordert viel, nämlich nichts weniger als eine Art Selbstmord. Man muß jenes Selbst ablegen, das man aus den sogenannten zivilisierten Ländern mitbringt, und es im Inari-See ertränken. (…) Es dauerte nicht lange und ich erkannte, dass ich ihnen [den Lappländern] nichts beibringen konnte. Mit kaum erkennbarer Ironie machten sie mir deutlich, dass sie die Lehrer seien, und dass mein ganzes intellektuelles Gepäck viel zu leicht wiege. Wenn sie weder Shakespeare noch Goethe, Rembrandt oder Bach kannten, so war das nicht wichtig für sie. Rings um sie und in ihnen gab es Musik, Dichtung, Malerei. Sie brauchten nicht schöpferisch zu sein, weil sie der Schöpfung so nahe waren.           [Crottet2, S. 22]


 

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Tag 12 | 27. Juli: Tagestour auf den Bårddejiegna 

 

   Alles ist trocken, alles ist schön. Der Tagestrip zum Gletscher kann stattfinden. Wir lassen uns Zeit – schließlich sind wir ja im Urlaub – und starten erst gegen halb zwölf Uhr. Da ich heute mit etwa 17 bis 20 km und dabei mit einigen Auf- und Abstiegen rechne, lege ich vorsichtshalber meine Kniemanschette an. Zum ersten Mal hier oben. Bislang gab’s überhaupt keine Probleme mit meinem operierten Meniskus. Die Knie-Docs haben erstklassige Arbeit geleistet.

 

   Locker bewölkter Himmel, der immer wieder die Sonne durchscheinen lässt, sorgt für eine freundlich-angenehme Wetterstimmung. Wir starten diesseits des Gådkokjåhkkå – also keine Brückenüberquerung – und folgen dem Fluss in westliche Richtung zunächst über liebliche Hügel. In der Nähe gibt es eine einsame, verschlossene Samenhütte (Renvaktarstuga), die wir auf dem Weg zum Gletscher passieren.

   Ganz allmählich – über eine Strecke von etwa 6 km - gelangen wir von 900 auf 1100 m. Einige kleinere Wasserläufe wollen dabei übersprungen werden. Der Berg Lullihatjárro zur Rechten mit seinen lediglich 1586 m, rückt immer näher. Direkt dahinter in Marschrichtung beginnt laut Karte der Gletscher, dessen Zunge sich bis in die Mitte seiner Flanke vorschiebt.

   Etwa 3 km nördlich des Lulllihatjárro erhebt sich auf 1825 m der Gaskastjåhkkå. Hier kann man wählen, ob man westlich an ihm vorbei ins Lullihavágge oder östlich vorbei ins Gaskasvágge wandern möchte, um später in das kreuzende Sarvesvágge zu gelangen. Nach unserer ursprünglich geplanten Route wären wir von Norden her durch das Lullihavágge gekommen, um dann das Basislager dort einzurichten, wo es jetzt auch steht.

 

   Das Wetter ist klar. Wir können die Berge in ihrer stolzen Pracht bewundern. Überall um uns herum sehen wir dunkle Bergflanken mit Schneefeldern behangen. Das Landschaftsbild hat sich mittlerweile komplett verändert. Die lieblichen bewachsenen Wellen in der Erdkruste sind nacktem Stein gewichen. Wir befinden uns momentan direkt unterhalb eines Steilhangs des Boarektjåhkkå (1805 m). An seinem Fuß hat sich eine riesige Schutthalde angesammelt. Es scheint, als könne man die Erosion hier live und in Farbe mitverfolgen. Auf dem Talgrund mischen sich mehr und mehr Schuttanteile zwischen die größeren Felsen, die motivationslos hier herumliegen. Pflanzen gibt es praktisch gar keine mehr.


  Nun war ich ins Hochgebirge gekommen. Überall rundum lagen schneebedeckte Berge, und ich selbst ging wie im stärksten Winter im Schnee (…). Die hohen Berge (…) waren nicht steil abfallend, sondern mit Steinen überstreut. (…) [Linné, S. 123]


   Wir müssen feststellen, dass Karte und Wirklichkeit nicht (mehr) übereinstimmen. Die eingezeichnete Gletscherzunge gibt es in dieser Größenordnung nicht mehr. Seit Drucklegung der Karte (2009) ist der Gletscher geschätzt 3 km (!) weggeschmolzen. Wir laufen nun praktisch über dem – erdgeschichtlich betrachtet – frisch vom Eise befreiten Talgrund und erleben hautnah wie es normalerweise unter dem Gletschereis aussieht.

   Schotter, Geröll, klein gemahlenes Steingebrösel so weit das Auge reicht. Eine Vielzahl kleinerer Erhebungen und Vertiefungen erinnern an einen Frontabschnitt im I. Weltkrieg. Fehlt nur der Stacheldraht. Eine Trostlosigkeit, die ihresgleichen sucht. Dabei ist es totenstill. Und kein Lüftchen regt sich. Nur wenn man den eingestreuten Schneefeldern oder Resteisflächen näher kommt, ist ein leises Murmeln des Schmelzwassers zu vernehmen.

 

   Seit der Entstehung der Gebirge vor Millionen von Jahren hat die Erosion ganze Arbeit geleistet. Dabei haben die Gletscher der letzten Eiszeiten aber nur einen sehr kleinen Beitrag zur Einebnung geleistet. Der größte Abtrag fand durch Wind und Wetter in den unglaublich langen Zeiträumen statt, die seit der Bildung Skandinaviens vergangen sind. Von mehreren Gebirgen, die nacheinander entstanden, ist nur noch das jüngste, das Kaledonische Gebirge, als Berglandschaft vorhanden. Alles andere ist verschwunden. Verwittert und eingeebnet. Man schätzt die Höhe der abgetragenen Gesteinskruste auf 10 Kilometer – und das ist eine zurückhaltende Schätzung. Möglicherweise fehlt noch mehr.

   Wer in Skandinavien auf den vom Eis polierten Gesteinen spazieren geht, läuft inmitten uralter, abgetragener Gebirge. Verkehrsflugzeuge fliegen in dieser Region da, wo einst die Gipfel waren.

 

   Und dennoch gibt es auch hier Leben. Auf einem Schneefeld etwa 200 m voraus entdeckt Jens den Bergfuchs: Fjällräven. In seinem fahlen Sommerkleid galoppiert er über den Schnee, hält einmal inne, blickt in unsere Richtung und verschwindet dann zwischen den zahlreich herumliegenden Felsen.

 

   Wir orientieren uns neu. Der Bårddejiegna hat 5 Finger. Vom Basislager aus kann man den nördlichsten und zugleich dicksten und dessen benachbarten Finger sehen. Diese werden von den fast senkrecht abfallenden Flanken des Lullihatjåhkkå (1940 m), des Tvillingryggen (1846 m) und des Balgattjåhkkå (2002 m) umkränzt. Mittlerweile sind wir fast bis an den Ausläufer des Balgattjåhkkå herangekommen, ohne über Schnee oder Eis zu gehen. Soweit ist der Gletscher schon geschrumpft.

   Die Stelle mit dem gemäßigten Aufstieg am östlichen Rand des kartographierten Gletschers, haben wir schon längst überlaufen, weil wir uns am wirklichen Gletscher orientiert hatten. Der Plan war, am Rande des Eises hoch aufzusteigen und auf dem Rücken das verlassene „Pårtetjåkkå Observatorium“ aufzusuchen. Jetzt sind wir längst über diese Stelle hinaus und schon fast am Ende des Talkessels angelangt. Möglicherweise gibt es hier aber doch noch eine Möglichkeit, auf den die Gipfel verbindenden Bergrücken zu gelangen. Dann könnten wir dort oben in Richtung Osten wieder zurück zum Zelt gehen. Dabei würden wir zwangsläufig auch das Observatorium passieren.

   Der vergleichsweise gemächlich ansteigende Rücken des Balgat-tjåhkkå bietet sich zum Aufstieg an. Hat man aber den Rücken erreicht, steht man nach weiteren 500 m vor einer ca. 30 – 50 m breiten Schneebrücke, die den steinernen Rücken unterbricht und zu der uns sichtbaren Seite steil abfällt. Vermutlich sieht es auf der Gegenseite nicht anders aus. Die Breite des Schnee- bzw. Eisgrats kann nicht mehr als 2 m betragen – großzügig geschätzt. Das erscheint uns zu gefährlich und nicht kalkulierbar.

   Dafür liebäugeln wir mit dem mittleren „Finger“. Hier scheint es machbar zu sein, über den Nordhang hochzukommen. Das wird zwar im letzten Teil verflucht steil, geht aber größtenteils über Geröll. Wir versuchen es einfach.

 

   Die erste Hälfte ist problemlos zu bewältigen. Wo ehedem der Gletscher weilte, lässt uns seine trümmerartige Hinterlassenschaft in selbstgewählten Serpentinen etwa 400-500 Höhenmeter unspektakulär hinaufkeuchen bis wir vor dem steil aufragenden Endstück stehen. Um diese letzten 300-400 Höhenmeter genauer studieren zu können, muss man den Kopf schon deutlich in den Nacken legen. Mein lieber Schwan – aber jetzt aufgeben?

   Zwischendurch, das heißt auf etwa zwei Drittel der Himmelsleiter, gibt es ein paar langgezogene Schneefelder, die eventuell hilfreich sein können. Jens geht voran und macht mit seinen festen Bergschuhen Tritte in den Schnee, die Niklas und ich als „Treppenstufen“ nutzen. So geht es langsam voran. Im allerletzten Stück geht es nochmal über Fels und großformatiges Geröll.

   Wie damals in Norwegen auf dem Besseggen-Grat muss auch hier permanent Hand angelegt werden – so steil ist es. Wir gehen nicht in einer Linie, sondern versetzt, damit dem Untermann kein Stein aufs Haupt gelegt wird. Niklas schiebt mir einmal einen Wackermann entgegen, dessen kinetische Energie glücklicherweise nicht ausreicht, seine Position endgültig zu verlassen. Das eine oder andere Mal schickt sich ein Stein an, ins Rutschen zu geraten, bleibt aber regelmäßig im Kleingeröll hängen.

 

   Dann sind wir endlich und tatsächlich oben, direkt herausgekommen neben einem dicken Steinmann, der die höchste Stelle markiert. Diese Anstrengung hat sich wirklich gelohnt. Die Sicht ist klar; nicht nur auf die benachbarten Berge. Wir können in der Ferne die hohen Gipfel des Sarektjåhkkå ausmachen wie etwa Nord-, Syd- und Stortoppen, die höchsten Sarekgipfel, obwohl eine geschlossene Wolkendecke über uns schwebt.

   Die Rundumsicht ist fantastisch. Wir genießen das Panorama eine ganze Weile. Dann machen wir uns auf den Rückweg, allerdings nicht ohne dem dicken Steinmann noch ein Steinchen obenauf zu legen.

(...)