Arctic Circle Trail  -  Trekking auf Gröndland

 

LESEPROBE

 

 

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   Die Zeit davor soll dem Arctic Circle Trail (kurz: ACT) gewidmet werden, ein Wanderweg, der in der eisfreien Zone an der Westküste zwischen der Küstenstadt Sisimiut und dem ehemaligen amerikanischen Militärstützpunkt Kangerlussuaq im Inland über ca. 170 km nahe des nördlichen Polarkreises verläuft. Der ACT verläuft relativ geradlinig in Ost-West-Ausrichtung und wird vom Großteil der Wanderer auch so gelaufen: von Kangerlussuaq im Landesinneren nach Sisimiut an der Küste. Das ist vermutlich dem Umstand geschuldet, dass die Touristen auf internationalen Flügen anreisen, die die größere Landebahn in Kangerlussuaq benötigen. Damit unser Plan mit dem Eisschild aufgeht, wollen wir entgegengesetzt der üblichen Gehrichtung laufen. Das bedeutet, in Kangerlussuaq innerhalb einer Stunde noch einmal in eine kleinere Propellermaschine mit etwa 40 Plätzen umzusteigen und zur Küste weiterzufliegen.

 

   Der ACT selbst stellt keine besonderen Anforderungen an den Wanderer: die niedrigste Höhe ist NN (Meereshöhe), die höchste Höhe ca. 500 m über NN. Dazwischen gibt es natürlich ein ewiges Auf-und-Ab. Die längste und steilste Steigung bietet die östliche Begrenzung von Ole’s Laksedalen mit ca. 300 Höhenmetern auf nur 1000 Streckenmeter. Das ist rauf wie runter gleich kräftezehrend und wird nur verstärkt durch die auf dem Rücken mitgeführte Zuladung (vgl. Höhenprofil der Gesamtstrecke auf S. 121).

 

   Es gibt eine Handvoll Hütten entlang des Pfades (Liste am Ende des Buches im Anhang). Allerdings ist es wegen der relativ großen Abstände dazwischen (i.d.R. 20+ km) nicht empfehlenswert, die Route als reine Hüttentour zu begehen. Die meisten Hütten sind ziemlich klein (3-6 Schlafplätze) und in keiner gibt es Kocher-Hardware wie man es vielleicht aus Skandinavien kennt. Eine kleine Kochecke ja, aber Kocher und Brennstoff muss man selbst beisteuern. Im größeren Kanucenter und der Innajuattoq-Hütte zum Beispiel, kann der Innenraum theoretisch mit einem Petroleumofen erwärmt werden. Vorausgesetzt, es ist entsprechender Brennstoff vorhanden – worauf man sich nicht verlassen sollte – und man kommt mit der Handhabung klar. Es sollen schon Hütten durch unsachgemäßes Anblasen eines solchen Ofens ein Raub der Flammen geworden sein. 

 

(...)

   Während die Pinguin-Frage auf der nördlichen Halbkugel keine Rolle spielt, drängt sich hier dafür das Eisbär-Thema in den Vordergrund. Immerhin sind die Kerls hier zuhause. Allerdings treiben sich die Weißpelze viel lieber noch weiter nördlich herum. Hier unten im Südwesten, in Polarkreisnähe, soll die Wahrscheinlichkeit einem Eisbären zu begegnen, gegen Null gehen. Falls es wider Erwarten doch zu einer unheimlichen Begegnung mit der weißbepelzten Art kommt, bietet „VisitGreenland“, die nationale grönländische Tourismusbehörde, auf ihrer Homepage Verhaltensregeln an. Je nachdem in welche Situation man gerät, lernt man hier am grünen Tisch erprobte(?) Verhaltensweise kennen (s. nächste Seite).

 

 

 

Pass am Qerrortusup Majoriaa bis Kangerluarsuk Tulleq

 

| Kangerluarsuk Tulleq.Fjord | Aappilatorsuaq | Kangerluarsuk Tuleq Syd.Hütte | Aappilattorsuaq |

 

   Während der Nacht weht heftiger Wind, der die Zeltwände geräuschvoll flattern lässt. Gegen Morgen beruhigt sich der Wind, aber der Himmel ist bewölkt. Wir brechen das Lager ab und nehmen den Rest des Passes in Angriff. Dieser Teil des Plans, den Tag nicht mit der kompletten Passbewältigung zu beginnen, hat schon mal funktioniert. Dennoch gilt es, ein kurzes und steiles Stück gleich zu Beginn hinter sich zu bringen.

   Es sind nur etwa 500 knackige Streckenmeter bis auf eine Höhe von etwa 350 m. Danach geht es mehr oder weniger auf dieser Höhe für etwa 6 Kilometer weiter. Wir durchqueren die etwa 30 qkm große Hochebene Qerrortusup Majoriaa, auf der sich in vielen felsigen Vertiefungen kleine Seen gebildet haben. Das Wetter bessert sich zusehends.

 

   Wir bewegen uns auf einer geraden Linie in nordöstlicher Richtung auf das innere Ende des Kangerluarsuk Tulleq Fjords zu. Am Ende des Fjords befinden sich einige private Hütten, die vermutlich Jägern gehören, die gerne mit dem Motorboot von Sisimiut hierher fahren, um ihrem Hobby zu frönen. Zwischen ACT und Fjord werden wir später die – aus unserer Sicht – erste Hütte des Trails passieren: Kangerluarsuk Tulleq Syd.

   Am Ende der Hochebene erfreuen wir uns am ungehemmten Blick auf die blaue Wasserfläche des Fjords. Das Ende des Fjords entzieht sich unseren Blicken hinter einer sich vorwitzig vorgeschobenen Landnase. Unten, in Wassernähe angekommen, verläuft der ACT zunächst ziemlich genau auf der 100-Höhenmeter-Linie in West-Ost-Richtung.

 

   Zuvor nagt ein sehr steiler Abstieg über 200 Höhenmeter an unseren Kräften. Der Pfad kommt hier wie eine schmale Rinne im dichten niedrigen Bewuchs daher. Eine Gruppe junger Wanderer kommt uns entgegen und wir gewähren den bergauf Gehenden Vorfahrt, damit sie in ihrem langsamen Trott nicht innezuhalten brauchen. Jedes Stop-and-Go erfordert besonders bergauf zusätzliche Kraft. Zum Ausweichen treten wir jedes Mal nonchalant seitwärts in die Butnik und lauschen dem keuchenden Atem des Entgegenkommenden, nicht ohne einen dankbaren Gedanken an die damit verbundene eigene Pause zu verschwenden.  

 

 

   Der Abstieg ist geschafft. Die nun folgende Passage wirkte von oben, als hätten wir nun ein hübsches Stück grasbewachsenen Wegs vor uns, über das locker entlang geschlendert werden kann. Doch der Schein war trügerisch. Uns erwartet eine patschnasse Grasnarbe, die immer wieder zu Umwegen auf hoffentlich trockeneres Gebiet zwingt. Eine Hoffnung, die sich meist nicht erfüllt. Das Gehen auf diesem nachgiebigen Grund, auf dem man sich nicht richtig abstoßen kann, lutscht einem die letzten Kräfte aus dem Körper. Das ist schon ohne Gepäck eine Tortur und mit dem kompletten Kampfgerödel auf dem Buckel einfach nur unbeschreiblich.

 

   Einige höchst beschwerliche Feuchtgebiete später, die man irgendwann tatsächlich nicht mehr umgehen, sondern nur noch willenlos durchqueren kann, erscheint auf einem Hügel linker Hand, hinter einem sehr, sehr nassen Flecken Erde, die Hütte Kangerluarsuk Tulleq Syd.

 

 Da wir sowieso nicht in der Hütte übernachten wollen, schenken wir uns den Spaß, dort hinüber zu schwimmen. Ich frage mich, ob ich hier überhaupt richtig bin. Wenn ich Kneippkuren gewollt hätte, wäre ich nach Bad Wörishofen gefahren. Da hätte man wenigstens die Schuhe weglassen können. Aber so....

   Es geht immer noch ein wenig bergauf. Endlich wird der Boden ein wenig fester. Diese Chance nutzend, schlagen wir das Zelt etwa 500 m vor Erreichen der Hütte etwas unterhalb des Pfades im Windschatten einer Erdstufe auf. Damit verfehlen wir den ursprünglich geplanten Etappenpunkt, die Landenge zwischen dem Fjord und einem namenlosen See, um  4 km. Das ist der Tribut, den uns diese olympische, kräfteraubende Schwimmstrecke auf den letzten 3 km gekostet hat.

   Ursprünglich hatte ich für den nächsten Tag eine Tagestour in die Berge auf der gegenüberliegenden Fjordseite vorgesehen. Dazu müsste man von der Landzunge aus erst ca. 4 km gehen, bis das Fjordende umrundet wäre und um an den Fuß der Berge zu gelangen. Das war eine Planung anhand der topographischen Karte. Jetzt, angesichts der Wirklichkeit, erscheinen die gegenüberliegenden Hügel nicht mehr so attraktiv. Deshalb entscheiden wir uns spontan dazu, statt dessen lieber die 907 m auf den Gipfel des rechter Hand aufragenden Aappilattorsuaq zu erklimmen. Das ist ein Gipfel des langgezogenen Bergmassivs, das bis Sisimiut reicht und zu dem auch der Nasaasaaq gehört.

 

   Ich bin geschafft und froh, als das Zelt steht. Der Platz ist gut gewählt mit dem Ausblick, den er auf den Fjord gewährt. Kaum 20 m weiter plätschert ein kleiner Wasserlauf die Erdstufe in unserem Rücken hinunter. Fließendes Wasser quasi auf Armeslänge erreichbar. Perfekt für Koch- und Hygienegeschäfte.

 

 

Kanucenter bis Katiffik-Hütte

 

| *Jeder denkt an sich, nur ich denk an mich | nochmal die TINU | große Paddeltour | Landgang | Katiffik-Hütte | die Amis | Jimmy |

 

  Die Nacht war hart im wahrsten Wortsinne. Es war blöd, aus dem reichhaltigen Fundus keine doppelte Matratzenschicht zu nutzen. Einzeln sind die Dinger einfach durch- und plattgelegen, sodass die simplen Holzbretter darunter permanent auf die Knochen drückten. Aber dafür haben wir wenigstens trocken gelegen. In der Nacht hat es wieder geregnet und auch jetzt ist der Himmel noch grau.

 

   In der Hütte herrscht Aufbruchstimmung. Während alle ohne Eile ihr Hab und Gut wieder zurück in die knautschfähigen Reisekoffer quetschen, reißt der Himmel doch noch auf. Das Wolkenbild verspricht dauerhaft gutes Wetter für diesen Tag.

 

   Nach dem obligatorischen Müsli-Frühstück wird die Hütte gerade gerückt. Unter dem einen Fenster befindet sich eine lange Küchenzeile, vor der der Boden ziemlich feucht ist. An einigen Stellen wird das Sonnenlicht in Wasserlachen gespiegelt, die ursächlich aus dem Unterschrank unter dem Spülbecken gespeist werden müssen. Wischmop und Eimer stehen dekorativ direkt neben der Küchenzeile. Nachdem die meisten Kurzzeitmitbewohner mit großen Schritten die Lachen überbrückt, die Putzgeräte erfolgreich ignoriert und diese gastfreundliche Stätte final verlassen haben (siehe dazu * ganz oben), nehmen wir uns der Sache an. Zusammen mit den Holländern bilden wir eine Putzkolonne, feudeln die Bude gründlich durch und stellen dabei fest, woher das ganze Wasser wirklich gekommen ist. Im Schrank unter der Spüle befindet sich ein 60-Liter-Kunststofftrog, der das Spülwasser, das per Kanister oder wie auch immer aus dem See beigebracht werden muss, aufnimmt. Und der ist, entgegen aller Naturgesetze, irgendwann tatsächlich auch mal voll. In diesem Zustand muss er sich schon ein paar Tage lang befunden haben. Immer wenn das Spülbecken benutzt wurde, ist der Trog natürlich übergelaufen und das Wasser hat sich seinen Weg aus dem Schrank über den Fußboden gesucht.

 

   Der Holländer und Niklas wuchten das Ding vorsichtig, ohne Überschwappen, nach draußen und entlassen den guten Zentner organisch angereicherten Wassers nahebei direkt in die wiesenhafte Natur. Niklas macht einen entsprechenden Hinweiszettel für nachfolgende Küchenbenutzer und klebt ihn mit einem Stück Panzerband ans Fenster über der Spüle.

   Wir bereiten uns auf die Kanutour vor. Das Wetter wird immer besser. Es geht ein leichter Wind und die Kinder des Glücks werden wieder Rückenwind haben. Das sind hervorragende Aussichten für unser Vorhaben. Schließlich wollen wir es bis zum Ende des Sees schaffen und so die lange Etappe über 20 km direkt am Ufer entlang bequemer und vor allem schneller zurücklegen. So können wir einen ganzen Tag aufholen, um sicher zu gehen, den gebuchten Ice-Cap-Termin am 4. September auch wahrnehmen zu können.

   Die beiden Deutschen, die wir gestern getroffen hatten, erzählten, dass sie auch versucht hatten, den See zu befahren. Leider hatten sie Gegenwind und nach 2 Stunden und erheblichen Kraftaufwands ohne nennenswerten Streckengewinn hatten sie dann aufgegeben. Dagegen stehen die Zeichen für uns jetzt günstig.

 

   Der Amitsorsuaq  ist etwa 2 km breit und über 20 km lang. Das ist eine große Wasserfläche, die auch bei geringem Wind in Bewegung gerät. Da wir nicht die geübten Kanuten sind und die Bordmittel weder den internationalen Wettkampfregeln noch der Genfer Konvention entsprechen, muss zumindest theoretisch in Betracht gezogen werden, dass wir fachgerecht kentern können. Deshalb wandern Papiere und Geld in ein wasserdichtes Behältnis und dann in die Hosentasche und Dinge, die nicht nass werden dürfen (z.B. Kamera) in einen ebenfalls wasserdichten Ortlieb-Sack. Der Rest wird so gut es eben geht mittig im Boot TINU verstaut und zum Schutz gegen Spritz- und gegebenenfalls Regenwasser mit dem Zelt-Footprint abgedeckt. Eine kurze Überschlagsrechnung ergibt, dass die gewichtige Summe unserer gestählten Körper und beider Gepäckcontainer die zulässige Höchstzuladung von 400 kg – das verrät uns ein Hinweis auf dem Boot – nicht überschreitet. Na, dann kann es ja endlich losgehen.

 

   Es liegt noch ein zweites Boot am Ufer. Wir suchen uns die besten Paddel und Schwimmwesten (wir wählen die kleinsten Übel) aus dem insgesamt verfügbaren Fundus zusammen. Die Paddel sind von Wanderern aus aller Herren Länder samt und sonders irgendwie für weitere Einsätze behelfsmäßig wiederhergestellt worden. Wie auch sonst. Schließlich haben die wenigsten Wanderer eine Faltwerkstatt dabei. Da muss man halt im Bedarfsfall den MacGyver machen. Im Land der Blinden ist der Einäugige König, sagt man. Hier ist König, wer aus den Tiefen seines Rucksacks eine Rolle Panzerband zutage fördern kann.

 

   Und schon stechen wir in den See. Ein leicht bewölkter Himmel über und leichter Wellengang um und unter uns begleiten den Start. Die Platzverteilung von Bug nach Heck lautet: ich, Rucksäcke, Niklas. Nach 200-300 m haben wir uns in den erforderlichen Paddel-Rhythmus eingegroovt. Mitunter neigt das Kanu dazu, sich quer zu den Wellen zu stellen, aber Steuermann Niklas hat’s im Griff. Guter Sohn!

    Ein nicht erkannter Sehnenabriss in meiner rechten Schulter vor 10 Jahren hat dazu geführt, dass der Musculus Supraspinatus nicht nur verkümmert, sondern mittlerweile einfach weg ist. Dadurch ergeben sich bei mir schmerzhafte Probleme insbesondere bei Bewegungen über Schulterhöhe hinaus. Deshalb muss ich beim Paddeln häufiger pausieren, so dass Niklas die Hauptarbeit verrichtet. Der Wind steht immer noch günstig und so kommen wir trotzdem gut voran.

   Nach einer Stunde haben wir ohne besondere Anstrengung bestimmt schon 6 km geschafft. Der Wind schiebt uns freundlicherweise gemächlich übers Wasser. Die Hauptarbeit besteht darin, die TINU durch regelmäßige Korrekturen auf Kurs zu halten.

   Die Wanderstrecke vom Kanucenter bis zur Katiffik-Hütte folgt über 20 km fast stringent dem Verlauf des südlichen Seeufers. Auf der Karte ist im See eine Kanuroute eingezeichnet. Diese führt während der ersten 10 km ebenfalls direkt in Südufer-Nähe entlang, kreuzt dann rüber zum Nordufer schlängelt sich zwischen einer kleinen Insel und einer winzigen Landzunge hindurch, um für die zweite Hälfte des Sees entlang des Nordufers zu verlaufen.

   Ab und zu tröpfelt es schüchtern aus lichtgrauen Wolken – aber das sind nur kurze Intermezzi. Größtenteils zaubert die Sonne tanzende Lichtreflexe auf das Wasser. Es ist nicht kalt. Leise plätschern die niedrigen Wellen gegen den Bootsrumpf und lullen uns ein. Sonst hört man nichts, nur die friedliche Stille der Einsamkeit.

   Wir nähern uns dem Inselchen und beschließen, dort anzulegen und uns ein wenig die Beine zu vertreten. Von der 194 m hohen Erhebung erhoffen wir uns einen Blick auf das heutige Tagesziel: die Katiffik-Hütte am Ost-Ende des Sees.

   Das Inselufer ist felsig – kein Sand- oder Kiesstrand – doch das Anlegemanöver gelingt problemlos. Zwischen den Felsen eingekeilt liegt ein einsames Rentiergeweih, das kurzerhand als Poller missbraucht wird. Sicher vertäut überlassen wir die TINU sich selbst und erklimmen die „Höhe 194“.

 

   Der Blick auf die Hütte wird uns vom steilen Nordufer verwehrt, an dem wir nicht vorbeigucken können. Immerhin zeigt ein 10 Kilometer weiter Blick zurück über den See, welche Strecke wir schon auf dem Wasser zurückgelegt haben. Die Hälfte ist geschafft. Wir lassen uns noch etwas durchpusten und drehen die Nasen aus dem Wind. Das Südufer mit seinen bis auf gut 400 m ansteigenden Hängen leuchtet uns in seiner sonnenbeschienenen Gleichmäßigkeit gülden entgegen. Wir wissen, dass der Pfad direkt am Ufer entlangführt, aber wir sind mit 2-3 km zu weit weg, um ihn tatsächlich zu erkennen. Wanderer sind auch keine auszumachen; auch während der gesamten Fahrt nicht. Es ist allerdings schwer einzuschätzen, inwieweit man einen oder auch zwei normal gewachsene Menschen vor der beeindruckenden natürlichen Kulisse tatsächlich wahrnehmen würde. Denn selbst das einsame Ren, das wir von unserer Anhöhe auf dem Nordufer traben sehen, ist visuell nicht so leicht wieder auszumachen, wenn man es einmal aus dem Blick verloren hat.

 

   Schön ist es hier oben im Wind. Ich bin froh und dankbar, dass ich hier sein darf. Der Wind braust in meinen Ohren, während ich das Naturschauspiel rings um mich her bewundere und ein Gefühl tiefer Zufriedenheit erfüllt mich.

 

   Die TINU hat brav gewartet und sich nicht losgerissen. Formvollendet gehen wir wieder an Bord und mit der Eleganz geübter Routiniers nehmen wir rasch wieder Fahrt auf. Nach einer halben Stunde ist die sichtversperrende Bergnase umrundet und erstmals ist mit etwas Phantasie am weit entfernten Ende des Amitsorsuaq ein rotes Pünktchen zu erkennen. Das muss die Katiffik-Hütte sein. Naja, 6-7 Kilometer sind es immer noch. Das bedeutet noch eine weitere gute Stunde auf dem Wasser, während der wir aber keine Hektik entwickeln. Dieser Tag ist einfach klasse. Ziemlich stabiles, freundliches Wetter und wohlmeinende Windverhältnisse sorgen für eine wirklich entspannte Paddeltour. Okay, die Paddel selbst sind nicht der wahre Jakob – die eckige Verlängerung des Paddelstiels mit einem Stück Dachlatte hat mir zwischen Daumen und Zeigefinger eine kleine offene Blase beschert – aber sich darüber zu echauffieren hieße, auf hohem Niveau zu jammern.

   Nun wird doch der eine oder andere Meter mit etwas mehr Krafteinsatz bewältigt. Das Ziel liegt nun mal vor der Nase und motiviert ungemein. Nun dauert es wirklich nicht mehr lang und die TINU rutscht auf den Kiesstrand, nur einen Viertel Steinwurf von der Hütte entfernt. Wir kümmern uns erst um das Kanu, das uns zuverlässig hierher getragen hat, bevor ein warmer Tee uns wieder aufwärmen kann.. Gegen Ende hat der Wind uns doch etwas ausgekühlt.

   Die Hütte ist nicht nur nicht leer, sondern mit 3 Frauen hälftig belegt. Der kleine Tisch an der Wand gegenüber der Tür beherbergt Berge von Fressalien. Das sind die primären Wahrnehmungen. Wir grüßen artig und lassen verlauten, dass wir etwas später, wenn das Zelt steht, die Kochecke benutzen wollen. Dann bereiten wir erstmal unsere Unterkunft vor. Der Wind hat sich zwischenzeitlich etwas verstärkt und ist zunehmend eisiger geworden. Ein Grund mehr, wenigstens zum Kochen die Hütte zu benutzen. 

   Das heutige Schlemmermahl besteht aus doppeltem Nudeleintopf und einem Becher heißer, fetter Brühe als Dessert. Da geht einem das Herz auf!

   Die Mädels sind aus USA und Schottland, gehören in dieser Konstellation aber nicht zusammen. Die schottische Mikrobiologin ist solo unterwegs. Die beiden Amerikanerinnen sind Schwestern, die schon den ganzen Tag hier hocken und warten. Dann warten sie mit einer Story auf, die es wert ist, erzählt zu werden:

   Ursprünglich sind die Amis zu fünft angereist: die beiden Mädels, der Ehemann von einer der beiden und zwei Freunde. Kurz nach der Ankunft in Kangerlussuaq hat sich einer der beiden Freunde separat aufgemacht, die Welt zu erkunden. Das kam wohl unerwartet für die übrigen Gruppenmitglieder, aber da waren’s nur noch vier. Der andere Freund ist nicht wirklich ein Outdoor-Mensch und man hat sich schon gewundert, warum er diese Reise überhaupt unternommen hat. Dennoch hat er die erste Etappe bis zur Katiffik-Hütte mitgemacht, dann aber verkündet, er würde jetzt wieder zurückgehen und in Kangerlussuaq auf die Rückkehr der übrigen Gruppenmitglieder warten. Seltsam bis hier? Aber es geht noch weiter!

 

   Man hat also in Katiffik übernachtet. Jimmy, der Ehemann von Mädel 1, hegte große Bedenken, den Kollegen allein bis Kangerlussuaq zurückgehen zu lassen. Die Befürchtung war, dass er den Weg nicht finden würde – schließlich ist er ja kein Outdoor-Mensch. Also sind die beiden heute Morgen zusammen los und seitdem wartet man auf Jimmy. An dieser Stelle nehme ich nehme das Ende vorweg, um die Geschichte zusammenhängend zu erzählen.

   Irgendwann um Mitternacht ist Jimmy tatsächlich wieder hier an der Katiffik-Hütte angelangt. Beim Frühstück am nächsten Morgen erzählt er wie er seinen Kollegen hat vorgehen lassen, um zu sehen, wie der sich so verhält. In der Tat wäre dieser zweimal falsch „abgebogen“ und wer weiß wo gelandet, wenn Jimmy ihn nicht wieder eingenordet hätte. Vielleicht hätte er sich zu dem in 2016 vermissten Chinesen gesellt (s. Kasten „Tourist vermisst“ auf der nächsten Seite). Jimmys Befürchtungen waren also nicht grundlos. In Kelly Ville, dem Start-/Endpunkt des ACT, hat er seinen Kumpel schließlich verlassen und ihn für die letzte Strecke bis Kangerlussuaq sich selbst überlassen. Auf diesen letzten 15 km wird sich selbst ein Indoor-Mann nicht mehr verlaufen, wenn er nur der einzigen Straße in der Umgebung bis Kangerlussuaq folgen muss.

 

   Also den Kumpel bis an die Straße bringen, noch einmal freundschaftlich auf die Schulter klopfen, auf dem Absatz kehrt und denselben Weg wieder zurück machen. Da hat der liebe Jimmy von morgens (ich weiß nicht, wann er gestartet ist) bis Mitternacht mal eben knapp 50 km – ohne Gepäck – abgerissen. Ich bin vor ewigen Zeiten, als ich noch voll im Saft stand, dem Leinpfad an der Ruhr gefolgt: von Essen-Kray bis Witten und zurück. Eine vergleichbare Strecke (65 km in 11-12 Stunden), allerdings komplett ohne Steigungen. Deshalb kann ich Jimmys Leistung gut einschätzen.

 

   Durch den gestrigen Gewaltmarsch und der heutigen Paddeltour haben wir drei Tage gutgemacht. Das bedeutet, dass wir nun absolut keine Zeitprobleme mehr haben, um die Ice Cap-Tour am 4. September wahrnehmen zu können. Deshalb müssen wir heute auch nicht mehr weitergehen, was wir gleich bei der Ankunft hier beschlossen haben. 

   Wir unterhalten uns noch ein wenig über die dampfenden Nudelbecher hinweg mit den Mädels, sind dann aber auch bald reif für die Daunen. Die Amerikanerinnen warten weiter auf Jimmy.