Mittwoch, 28. Juni – 6. Tag

  

   (...) die Bergseiten waren nass und schwarz von Wasser, das an ihnen herunterrieselte, tropfte und rieselte mit der gleichen winzigen Melodie. Diese kleinen Melodien weit drinnen in den Bergen verkürzten mir manche Stunde, wenn ich dasaß und um mich blickte. Nun rieselt dieser kleine endlose Ton hier in seiner Einsamkeit, dachte ich, und niemand hört ihn, und niemand denkt an ihn, aber trotzdem rieselt er hier für sich die ganze Zeit, die ganze Zeit! Und es schien mir nicht mehr, dass das Gebirge so vollkommen öde war, wenn ich dieses Rieseln hörte. Ab und zu geschah etwas: ein Donner erschütterte die Erde, ein Felsblock löste sich und sürzte hinunter (...) einen Weg von Steinrauch hinter sich lassend (...).

   Knut Hamsun

 

   Es regnet noch immer. So langsam kann man kaum noch liegen, ohne dass es irgendwo weh tut. Halbstündlich luken wir aus dem Zelt, um die Großwetterlage zu begutachten. Das Ergebnis ist jedesmal gleich niederschmetternd.

   Doch dann – gegen Mittag - beginnt der Zelthimmel zu leuchten und es wird plötzlich spürbar wärmer. Ein sofortiger Blick nach draußen bestätigt: tatsächlich – hie und da sind blaue Flecken am Himmel zu erkennen. Der große Regen hat aufgehört – nach fast 48 Stunden. Jetzt geht es auf einmal rasend schnell. Die Sonne löst die Nebel auf; die Wolken, die bis vor einer halben Stunde noch tief bis ins Tal hingen, sind schnell verschwunden. Jetzt müssen wir tätig werden. Gestern haben wir schon bemerkt, dass der Fluss durch die Regenfälle angeschwollen ist.

 

   Heute hat er noch weiter zugelegt und ist teilweise über die Ufer getreten. Wir befinden uns in einer mißlichen Lage auf unserer Insel im Strom. Nachdem wir am Montag die große Watstelle bezwungen und danach erschöpft das Zelt errichtet hatten, hätten wir noch einmal waten müssen. Durch den zweiten Flussarm bei normalem Pegel. Leider hatten wir zu dem Zeitpunkt nicht erkennen können, dass wir unser Zelt auf einer Insel aufgeschlagen hatten. Jetzt sitzen wir erstmal hier fest.

   Die Insel ist ca. 400 m lang und spindelförmig. Die breiteste Stelle beträgt vielleicht 50 – 60 m. Unsere Aufgabe lautet nun, irgendwo einen Übergang zu finden. Fast überall stoßen wir auf Stromschnellen, mitunter mit einer reißenden Kraft.

  

   Nur im unteren Teil der Insel beruhigt sich der Fluss, zeigt aber auch dort starke Strömungen. Hier beginnen wir mit der Suche. Eingedenk der vorgestrigen Furtsuche, die mit völlig durchnässten Hemden geendet hatte, sind wir diesmal schlauer. Wir gehen gleich als Flitzer los.

   Ich teste den ruhig dahinfließenden Teil des Flusses. Nur mit Turnschuhen und Wanderstöcken bekleidet, platsche ich erstmal durch das Überschwemmungsgebiet bis zum eigentlichen Flussbett. Das Wasser ist stark sedimenthaltig, so dass man keine 5 cm tief blicken kann. Langsam taste ich mich hinein. Das Wasser reicht anfangs bis zur Wade, schnell bis zum Knie und ruckzuck bis zur Brust. Noch kann ich stehen und versuche, ein kleines Inselchen, mehr eine Sandbank in der Mitte des etwa 20 m breiten Flussbettes zu erreichen. Kurz davor verliere ich den Grund unter den Füßen und muss schwimmen. In der zweiten Hälfte hinter dem Inselchen ist es noch tiefer und es herrscht eine starke Strömung. Ich gehe zurück und probiere noch zwei weitere Stellen aus – aber ohne Erfolg. Etwas verkühlt laufe ich zu Jens zurück und ziehe meine Jacke über. Welch einen Anblick muss ich bieten!

   Wir gehen weiter flussaufwärts bis zu den tosenden Stromschnellen. Direkt unterhalb der gischtenden Kaskaden verbreitert sich das steinige Flussbett von 10 auf 30 m. Jens versucht hier einen Weg durch die gemäßigten Stromschnellen zu finden. Zuvor haben wir vom Ufer aus einen möglichen Weg ausgeguckt, der bis auf eine nur wenig überspülte Felsplatte kurz vor dem jenseitigen Ufer führt. Von dort aus wären es nur etwa 2 m durch tieferes Wasser bis zur anderen Seite.

   Doch Jens gelangt nicht einmal annähernd bis zu dieser Platte. Nach der ersten schon mit einiger Mühe zu bewältigenden Hälfte bietet ein schmaler Durchfluss zwischen einigen großen Felsbrocken ein nicht zu überwindendes Hindernis.

(…)   Der Weg zurück und doch noch über die Brücke zu gehen, bleibt uns somit verwehrt. Brainstorming ist angesagt.

 

   Ich schlage vor, ein Floß aus Isomatten unter Verwendung von Wanderstöcken als Stabilisatoren zu bauen, einen Rucksack darauf zu packen und durch das ruhigere Wasser zu schieben. Jens bezweifelt die Tragfähigkeit der Konstruktion und während wir noch diskutierend den Weg zurück zum Zelt einschlagen, finden wir plötzlich ein paar armdicke alte Holzpfähle, die schon ziemlich marode sind. Aber immerhin aus Holz. Wir überlegen, die Floßkonstruktion durch die Pfähle zu erweitern. Da uns nichts Besseres einfällt, wollen wir es versuchen.

(…)

   Es ist geplant, so weit es geht neben dem Floß zu gehen oder eben später nebenher zu schwimmen. Wir testen die erste Fuhre. Schon im ersten brusttiefen Teil, dort wo man noch stehen kann, haben wir Mühe, der Strömung Paroli zu bieten. Wir erreichen das Inselchen mit knapper Not und versuchen erst gar nicht den zweiten Teil, wo man nur noch schwimmen muss, in Angriff zu nehmen. Die Gefahr, den Rucksack zu verlieren und weit abgetrieben zu werden ist uns zu groß.

 

   Also Kommando zurück – Brainstorming II. Jens schlägt vor, an einer schmalen Stelle das Seil über den Fluss zu spannen und die wasserdichten Packsäcke an Karabinerhaken herüber gleiten zu lassen. Auch nicht schlecht - machen wir!

   Zu diesem Zweck rekrutieren wir aus dem nahegelegenen und zum Teil umgefallenen Rentierzaun, über den wir bei unseren Exkursionen gestolpert sind, zwei Metallpfähle, die wir zu einer Abgangsstation für unsere „Seilbahn“ zusammenbinden.

   Jetzt fehlt nur noch die Empfangsstation am anderen Ufer. Wir vereinbaren, dass ich hinüberschwimme, das von Jens herübergeworfene Seil in Empfang nehme, straff halte und die ankommenden Packsäcke abkoppele, ausleere und wieder zurückgleiten lasse usw.

(…)  

   Auf diesem Weg zerren wir die beiden Packsäcke, die von Jens aus den Rucksäcken befüllt und von mir auf einen Haufen geleert werden, wieder und wieder über die gischtenden Fluten. 20, 25 mal wiederholen wir diese kraftraubende Prozedur bis der gesamte Inhalt zweier Rucksäcke locker aufgehäuft neben mir liegt.

   Dann folgt die letzte Fuhre. Jens entledigt sich seiner Klamotten und packt sie in den Sack, der wie gehabt rüber geholt wird. Dann lösen wir den Seilkreislauf auf und gehen – das Seil zwischen uns – flussaufwärts bis über die Stromschnellen. Jens bindet sich sein Seilende um die Brust, lässt sich ins tiefe Wasser gleiten und schwimmt hinüber, während ich gleichzeitig das Seil Hand über Hand einhole bis er auf meiner Seite aus dem Wasser klettern kann.

   Fix und alle suchen wir noch einen Zeltplatz, schleppen allen Klüngel dorthin, bauen das Zelt auf und wollen jetzt nur noch ausruhen. Allein die Seilaktion hat 4 Stunden gedauert – bis kurz vor Mitternacht. Jetzt, um etwa 1 h, können wir uns endlich in die Schlafsäcke legen. Tröstlich ist nur, dass wir den ganzen Tag über allerbestes Wetter hatten. Die Abkürzung durch den Fluss hat uns zwar etwa 2 Kilometer Weg erspart, auf der anderen Seite hat sie uns letztlich einen ganzen Marschtag gekostet.

   Aber dafür haben wir ein schönes Abenteuer erlebt – und das ist unbezahlbar.